Die letzten Europäer
...von Hanno Loewy, Direktor Jüdisches Museum Hohenems
Im Mai 1940, wenige Monate vor seinem Freitod an der französisch-spanischen Grenze, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, schrieb der Philosoph Walter Benjamin seinem Freund Stephan Lackner in Paris:
„Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des letzten Menschen. Das könnte den letzten Europäer ergeben. Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.“
Vom 4. Oktober an verwandelt sich das Jüdische Museum in Hohenems in ein Zentrum des Nachdenkens über die Zukunft Europas.
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Europa von einem Rückfall in nationalistische und menschenfeindliche Ideologien bedroht. Der europäische Imperativ „Nie wieder!“ wird von Vielen in Frage gestellt. Auch aus den Reihen der österreichischen Regierung wird mittlerweile EU-Bashing auf unterstem Niveau betrieben. Jeden Tag unverblümter und unverschämter.
Zugleich entdecken Europas Nationalisten ihre eigene Fantasie vom „christlich-jüdischen Abendland“ – als Kampfbegriff gegen Zuwanderung und Integration. Die vorgeblich universellen Werte der Aufklärung, die zu den Grundlagen europäischer Verständigung nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählten, zeigen ihr anderes Gesicht und werden so zu Mitteln der Abschottung und Ausgrenzung.
Ein Jahr lang soll das Museum Ort einer offenen Debatte über die Zukunft Europas sein, indem es zum Diskurs über die reale und die ideelle Substanz der Europäischen Union aufruft, über Gefährdungen und Chancen, über zukunftsweisende und überkommene Konzepte. Über die europäische Aufklärung wird hier ebenso zu streiten sein wie über ihre Kinder: Säkularisierung und Moderne, Emanzipation und Partizipation, Nationalismus und Chauvinismus, Kolonialismus und Kapitalismus.
Das Museum entfaltet die Geschichte und Gegenwart der letzten Europäer am Beispiel der Versuche, jüdischer Politiker*innen und Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Unternehmer*innen ein geeintes Europa zu denken und stellet die Frage was aus den europäischen Ideen geworden ist.
Dabei steht auch eine Hohenemser Familie im Fokus, aus der das Museum vor vier Jahren eine umfangreiche Dauerleihgabe erhalten hat: den Nachlass von Carlo Alberto Brunner. Gemälde, Briefe und Dokumente, Fotos, Memorabilia und Alltagsgegenstände der Hohenemser Familie Brunner eröffnen das Panorama einer europäisch-jüdischen Familie, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Hohenems nach Triest aufmachte, um zu der rasanten Entwicklung der habsburgischen Mittelmeermetropole beizutragen.
Von dort wanderten Mitglieder der Familie weiter nach Wien und in die Schweiz, nach England, Deutschland, und in die USA. Ihr steiler sozialer und kultureller Aufstieg endete in der Katastrophe Europas, in der Verwüstung eines Kontinents in gegenseitigem Hass und in den Verheerungen zweier Weltkriege, die Teile der Familie in alle Welt zerstreute.
Die Ausstellung wird begleitet von einem intensiven Programm, einer „Very Central European University“ – und von einer website. Auf www.lasteuropeans.eu finden sich nicht nur ein Rundgang durch die Ausstellung, sondern auch ein kritisches Europäisches Tagebuch zu den Themen der Ausstellung, Videointerviews und Einblicke in die Sammlung Brunner.