Sehnsuchts-Glaserl am Drachenfelsen
..von Michael Hausenblas
Mein Ort des Sommers ist eine Erinnerung. Sie misst 3,65 mal 4,55 Meter und wurde aus Lärchenholz gefertigt. Die Rede ist von einem Floß, angekettet auf dem dunklen Grund des Bodensees. Meine Erinnerung schwimmt einen guten Steinwurf vom Ufer entfernt. Vorausgesetzt man kann einen Stein weit werfen.
Zwischen dem Floß und dem Strand der Bregenzer Bucht thront bis heute eine auf Pfählen ruhende Badeanstalt, die auf das Jahr 1825 zurückgeht. Von den Bregenzern wird sie wie eine nette Tante liebevoll Mili genannt. Dies deshalb, weil die alte Holzburg mit ihren grasgrünen Fensterläden einst als Militärschwimmbad diente. Es waren wahrscheinlich schnurrbärtige Kaiserjäger der k.u.k. Armee, denen hier beigebracht wurde, beim Schwimmen nicht zu viel Wasser zu schlucken.
Meine erste Erinnerung an das Floß der Mili reicht in eine Sommerszeit zurück, als einen die Mutter morgens mit Tiroler Nussöl marinierte und man am ersten Schultag im Herbst braun wie ein Brickerl im Klassenzimmer antanzte und nur einen Wunsch verspürte: zurück zur Mili!
Wollte man sich dort in jenen Sommern den Eintritt ersparen, musste man es dem frühen Vogel gleichtun. Zeitgleich mit dem Dienstantritt des Bademeisters in seinem kleinen Kabuff und dem Auftauchen der Sonne hinter dem Pfänder hieß es, eine langstielige Bürste zu schnappen, zum Floß hinauszuschwimmen und häufchenweise Schwanen-, Enten und anderen Gefieders nächtliche Notdurft wegzuschrubben. Gesagt, getan, gehörte einem das Floß allein, und man war Kapitän auf diesem schwimmenden Wunderteppich. Blickte man an Lindau vorbei gen Westen, war kein Ufer zu sehen. Irgendwo dort hinten lag Konstanz und noch weiter hinten Amerika. Bestimmt.
Dann saß man also da, zufrieden mit Poseidon und der Welt, stierte in den blassblauen Himmel und versuchte, watteweiche Fratzen in den kleinen Wolken zu erkennen, die über einen hinwegzogen, während die Strahlen des Sonnenballs die letzten kleinen Wasserflecken vom Rücken verschwinden ließen. Auf diesem Floß wurde man zur Einheit mit der Wasseroberfläche. Jesus mag übers Wasser gegangen sein, ich konnte auf ihm sitzen und den schwappenden Geräuschen lauschen, unter denen die Wellen das Inselchen sanft auf und niederhoben. Am Strand meines ganz eignen Ozeans schob derweil das Wasser kleine Steine wie Murmeln vor und zurück.
Mit zunehmender Wanderung der Sonne gen Konstanz und Amerika wurden die Planken meiner Teilzeit-Robinson-Crusoe-Insel zum Tummelplatz anderer Seebrünzler, wie die Bregenzer genannt werden. Das zarte Schwappen wich einem Gezeter und Geschreie von ganzen Nestern aus Wasserratten, die das Floß zu einem beinahe untergehenden Wrestling-Ring für Pubertierende machten. Nur der einmalige, feine Geruch des Sees, der aus dessen 252 Meter tief verborgenen Geheimnissen emporstieg, blieb über den gesamten Tag derselbe.
Verzog das übermütige Menschenknäuel, hatte man wieder ein Viertelstündchen für sich allein oder zu zweit und somit freien Ausblick auf die Mili und die Milianer, wie ihre Stammgäste heißen, die sich in ihren ganz speziellen Revieren zusammenrotten. (Nicht dem Stammvolk Zugehörige werden von diesem übrigens unter Naserümpfen als Einweg-Milianer abgetan). Eine der Ecken wird Afrika genannt, weil sie sich ganz besonders gut zum Sonnenbrutzeln eignet.
Afrika vis-à-vis, am anderen Zipfel der Mili, thront der berüchtigte Drachenfelsen, auf dem in erster Linie Damen zusammensitzen, die schon so manchen Sommer kommen und gehen sahen. Sie tratschen, spielen Karten, schlucken dabei nicht nur ein Proseccerl und lassen an der Schädlichkeit der UV-Strahlung berechtigten Zweifel aufkommen.
Proste ich ihnen in Gedanken aus der Ferne Wiens mit geschlossenen Augen zu, höre ich das kurze, federnde Knarren des Sprungbrettes. Zwei Sekunden später taucht mein Kopf unter einem blitzartigen "Tschock" tief in den See. Einige Unterwasserschwimmzüge weiter stemme ich mich mit einem Satz auf die Holzplanken des Floßes.
Lasse ich die Augen länger geschlossen, spüre ich die Sonne, wie sie mein Haar trocknet und sehe das goldene Licht eines späten Augusttages. Es verleiht dem fetten Waldteppich, mit dem der Pfänder belegt ist, einen Grünton, der an die Farbe eines Madagaskarfrosches erinnert. Wie dieses Licht klingt? Schwer zu sagen, vielleicht nach Marvin Gaye. Es wird Zeit, der Mili in diesem Sommer wieder einen Besuch abzustatten. Ich zahle auch Eintritt. Die Bürste zum Schrubben meines Floßes überlass ich einem anderen.
Dieser Artikel erschien im Sommer 2019 im Magazin RONDO der Tageszeitung DER STANDARD.
Michael Hausenblas ist Redakteur bei der Tageszeitung DER STANDARD, wo er in erster Linie für das Thema Design zuständig ist. Er wuchs in Bregenz am Bodensee auf. Dort verbrachte er an Sommertagen die meiste Zeit auf Segelschiffen, an Stränden oder im alten Militärschwimmbad Mili. Heute hofft er, dass er seiner Mili auch heuer wieder einen Besuch abstatten kann. Sollte dies nicht klappen muss er halt die Augen schließen und sie hören, riechen und - ja - auch sehen...